12.12.2019 Stress macht Würmer schläfrig
Team aus der Marburger Biologie erforscht die molekulare Steuerung des Schlafens an einem Modellorganismus
Es gibt mehrere Wege zum Schlaf, aber nur einer davon sichert das Überleben – so könnte man zusammenfassen, was ein Team aus der Biologie herausgefunden hat, indem es Hirnzellen von Fadenwürmern untersuchte: Dient das Schlafen dazu, sich von lebensgefährlichem Stress zu erholen, so erfordert dies die Aktivität eines bestimmten Zelltyps, der ALA-Neuronen; Neuronen anderen Typs, die ebenfalls Schlaf fördern, helfen hingegen nicht gegen Stress. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten über ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift „Current Biology“.
Die Augen fallen zu, die Bewegungen verlangsamen sich und hören schließlich ganz auf – wir schlafen. „Schlaf ist lebenswichtig“, konstatiert der Biologe Professor Dr. Henrik Bringmann von der Philipps-Universität, der die Forschungsarbeit leitete. Als Modell wählte er den Fadenwurm Caenorhabditis elegans, ein beliebtes Forschungsobjekt in der Entwicklungsbiologie. „Dass ein Fadenwurm schläft, hat vermutlich dieselben Gründe wie beim Menschen“, sagt Bringmann; „der Fadenwurm lässt sich aber viel einfacher untersuchen.“
Der Wurm besitzt mehrere Typen von Hirnzellen, die beim Schlafen aktiv sind. Fachleute sprechen von RIS- und ALA-Neuronen. Von ALA-Zellen ist bekannt, dass sie durch Stress aktiviert werden und dann zu Schlaf führen. Aber welche Aufgabe übernehmen RIS-Neuronen?
Um das herauszufinden, analysierte die Forschungsgruppe, welche Gene in den RIS-Neuronen aktiv sind. Das Ergebnis: RIS-Neuronen enthalten Moleküle, die bei vielen Tieren Schlaf hervorrufen, nämlich die Glieder der EGFR-Signalkette. Um die Wirkung zu studieren, führten die Wissenschaftler Verhaltensexperimente durch: Sie erzeugten Würmer, bei denen einzelne Gene durch Mutation verändert sind, und beobachteten die Effekte. „Wir erhielten sechs Gene, die auf die Dauer des Schlafs einwirken“, berichtet Koautor Jan Konietzka, der seine Doktorarbeit in Bringmanns Arbeitsgruppe anfertigt.
Eine Überraschung erlebten die Wissenschaftler, als sie ALA-Neuronen künstlich anschalteten: Dies führte auch zur Aktivierung von RIS. Bringmann und sein Team beschreiben dies als Zusammenhang von Schlaf und Schläfrigkeit: Zunächst geht die Aktivität der ALA-Zellen mit Trägheit und Müdigkeit einher; wird das Schlafbedürfnis größer, so wirken die ALA- auf die RIS-Neuronen ein, die dann zu kurzen Schlafschüben führen.
Erleidet der Organismus Stress, ist er auf die ALA-Aktivität angewiesen, um sich zu erholen. Das fand die Forschungsgruppe heraus, indem sie die Würmer einem Hitzeschock aussetzte, also die Temperatur in der Umgebung kurzzeitig erhöhte. Schaltet man ALA-Neuronen aus, so vermindert sich die Überlebensrate der betroffenen Würmer nach dem Hitzeschock um etwa ein Drittel. RIS-Neuronen haben keinen vergleichbaren Effekt. „Offenbar ist die ALA-abhängige Schläfrigkeit wichtiger, um sich von Stress zu erholen, als RIS-bedingte Schlafschübe“, folgern die Autorinnen und Autoren.
Professor Dr. Henrik Bringmann lehrt Neurophysiologie an der Philipps-Universität Marburg. Neben seiner Arbeitsgruppe beteiligten sich an den zugrundeliegenden Forschungsarbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen, der Universität Zürich sowie der Eidgenössischen Technischen Hochschule, der Vanderbilt-Universität im US-amerikanischen Nashville sowie der Universitäten Göttingen und Frankfurt am Main.
Die Max-Planck-Gesellschaft, der Europäische Forschungsrat sowie das Göttinger Graduiertenzentrum für Neurowissenschaften, Biophysik und Molekulare Biowissenschaften unterstützten die Forschungsarbeiten finanziell.
Originalveröffentlichung: Jan Konietzka & al.: Epidermal Growth Factor signaling promotes sleep through a combined series and parallel neural circuit, Current Biology 2019
Weitere Informationen:
Stress führt zu Trägheit: Setzt man den Fadenwurm einem Hitzeschock aus (HS), so vermindern sich seine Bewegungen (Q): Video
Henrik Bringmann im aktuellen Marburger Unijournal: Nr. 59, S. 19