17.07.2024 Das Navi im Kopf

TU-Forschende entschlüsseln, welche Prozesse bei der Orientierung im menschlichen Gehirn ablaufen

Bild: Erstellt mit DALL-E 2
Welche Prozesse laufen bei der Orientierung im menschlichen Gehirn ab?

Wie können menschliches Navigationsverhalten und dabei entstehende Unsicherheiten vorhergesagt werden? Das zeigt ein Team aus Forschenden rund um TU-Professor Constantin Rothkopf in einem jetzt in der renommierten Zeitschrift "Nature Communications" erschienenen Artikel. Demnach nutzt das Gehirn für die Navigation sowohl Informationen des Körpers (wie etwa die motorische Erinnerung an den zurückgelegten Weg) als auch eine interne mentale Karte. Dabei berücksichtigt es, dass diese zur Verfügung stehenden Informationen meist unvollständig, ungenau und unsicher sind – und berechnet den Weg kontinuierlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Unsicherheiten.

Während wir uns in unserer Umwelt fortbewegen, denken wir selten darüber nach, welche Prozesse dabei in unserem Gehirn ablaufen. Wir brauchen eine Vorstellung davon, wo unser Ziel relativ zu uns liegt – beispielsweise, weil wir es sehen oder uns daran erinnern, wo es liegt. Um unserem Ziel näher zu kommen, sehen und fühlen wir, wo wir uns relativ zu diesem befinden und wie wir uns gedreht und fortbewegt haben. Unser Gehirn gleicht aber nicht nur unsere derzeitige Position mit der Zielposition ab, sondern konstruiert und aktualisiert eine mentale Karte und plant beziehungsweise korrigiert unseren Weg anhand dieser. Was so einfach klingt und sich im täglichen Leben meist mühelos anfühlt, stellt unser Gehirn insbesondere in der Dunkelheit oder in unbekannten Umgebungen vor große Herausforderungen. Viele neurodegenerativen Krankheiten zeigen sich daher früh in einer Verschlechterung der Orientierung und der Navigationsleistung.

In der Erforschung des Navigationsverhaltens manifestiert sich auch ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel, die sogenannte "kognitive Revolution". Während man früher davon ausging, dass Verhalten entscheidend durch Reiz-Reaktions-Schemata geprägt wird, wurde insbesondere beim Navigationsverhalten deutlich, welche große Rolle interne, kognitive Repräsentationen der Außenwelt spielen – also "reduzierte" Abbilder etwa von Objekten, die wir im Gehirn gespeichert haben. Der Weg von der Entstehung dieser internen Repräsentationen bis hin zu konkret ausgeführten Handlungen wie etwa Richtungswechseln spiegelt komplexe Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, interner Repräsentation und Verhalten wider.

Forschung an der Schnittstelle vieler Disziplinen

Dementsprechend findet die Forschung auf diesem Gebiet an der Schnittstelle vieler Disziplinen statt, inklusive der Cognitive Science, der Neurowissenschaft und der Künstlichen Intelligenz. Die Relevanz dieser Forschung wird auch daran deutlich, dass der Nobelpreis in Physiologie und Medizin 2014 für die Entdeckung von Neuronen im Tiergehirn, welche sowohl die Position im Raum als auch die Richtung codieren, vergeben wurde. Inzwischen wurden mittels elektrophysiologischer Untersuchungen ähnliche Zellen auch beim Menschen entdeckt.

Doch viele Fragen sind bisher unbeantwortet. Selbst für technische Systeme ist es schwierig, Position und Orientierung immer eindeutig zu bestimmen. Daher zeigt beispielsweise Google Maps neben der vermuteten Position mittels einer Ellipse den wechselnden Grad der Unsicherheit seiner Positionsdaten an. Auch für das menschliche Gehirn ist es wichtig, die wechselnde Unsicherheit seiner Positionsbestimmung zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen, um die nächsten Schritte zu optimieren. Anders als bei technischen Systemen kann die Unsicherheit in unserem Gehirn verschiedene Ursachen haben, beispielsweise eine ungenaue mentale Karte oder Ungenauigkeiten in der subjektiven Wahrnehmung. Daher weist menschliches Navigationsverhalten eine hohe Variabilität auf. Um diese Unsicherheiten zu reduzieren, können Menschen aktiv nach Informationen (beispielsweise Landmarken) suchen.

Computermodell zur dynamischen Analyse menschlichen Navigationsverhaltens

Dass Navigationsverhalten nicht nur von der Integration mehrerer Informationen aus verschiedenen Quellen bestimmt wird, sondern auch deren wechselnde Unsicherheiten dynamisch berechnet und in die Navigationsentscheidungen mit einbezogen werden, konnte das Forschungsteam nun anhand der Analyse von Navigationsdaten dreier internationaler Labore aus den vergangenen 15 Jahren zeigen. Mit einem von ihnen entwickelten Computermodell lässt sich das in den Experimenten gefundene menschliche Navigationsverhalten inklusive der entstehenden Fehler und der Variabilität vorhersagen. Das Modell ist das erste seiner Art und liefert nicht nur eine einheitliche Erklärung für die Fehler, die Menschen beim Navigieren machen, sondern erlaubt auch quantitative sowie qualitative Vorhersagen über das menschliche Navigationsverhalten.

Fabian Kessler, Erstautor des Artikels, erklärt: "Was wir zeigen können, ist: Menschen planen beim Navigieren ihre Handlungen aufgrund von subjektiven unsicheren mentalen Repräsentationen, welche nach und nach durch die Interaktion von unsicheren Wahrnehmungen und unsicheren Handlungen geformt werden, und dadurch entsteht letztlich die Variabilität im Navigationsverhalten." Die Forscher griffen dazu auf den Hochleistungsrechner Lichtenberg-Cluster der TU Darmstadt zurück, um die Algorithmen des Gehirns zu simulieren. Denn es bedarf intensiver Berechnungen, um mit sich ständig verändernden Unsicherheiten klarzukommen, auch wenn wir das als Menschen nicht wahrnehmen.

Projekt ACTOR und Clusterprojekt „The Adaptive Mind“ (TAM)

Die Publikation entstand im Rahmen des Projekts "ACTOR – Towards a computational account of natural sequential behavior" von Professor Rothkopf. Dieses wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) seit 2022 für fünf Jahre mit einem renommierten "ERC Consolidator Grant" in Höhe von insgesamt zwei Millionen Euro gefördert. Die Veröffentlichung in "Nature Communications" ist zudem eine Fokuspublikation des Projekts "The Adaptive Mind" (TAM) zur Anpassungsfähigkeit des menschlichen Geistes. TAM ist bei der prestigeträchtigen Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder im Rennen um ein Exzellenzcluster.

Publikation
Kessler, F., Frankenstein, J. & Rothkopf, C.A.:
Human navigation strategies and their errors result from dynamic interactions of spatial uncertainties
Nature Communications 15, 5677 (2024).
DOI: 10.1038/s41467-024-49722-y

Kooperationspartner